Leonie*, 10 Jahre, ist froh, dass sie auch weiterhin zu den Gruppennachmittagen ins Caritashaus St. Josef gehen kann: „Hier kann man reden und es hört einem jemand zu“, sagt sie, wenn sie gefragt wird, was ihr dabei gut gefällt. Und: „Sogar über Probleme kann man sprechen; die werden nicht weitererzählt.“ Außerdem findet sie es cool, dass gemeinsam Ausflüge unternommen werden – im Winter zum Beispiel auf die Schlitt-schuhbahn. Mit anderen Mädchen und Jungen im Alter zwischen 8 und 12 Jahren trifft sich Leonie dort seit anderthalb Jahren alle zwei Wochen zum Spielen, Reden, Dazulernen, Spaß haben, Entspannen, Neues ausprobieren. „Auf Entdeckungsreise gehen“ nennen das die Leiterinnen der Gruppe, Birgit Fleck und Elke Schneider von der Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche, Eltern und Paare in Offenbach. Die beiden Sozialpädagoginnen haben die Kindergruppe im Rahmen des Caritas-Projekts „Schatzinsel sucht Entdecker“ seit November 2014 aufgebaut und betreut. Das Angebot wendet sich speziell an Kinder und Jugendliche, deren Eltern psychisch erkrankt oder suchtkrank sind. Mit Gruppenstunden, ergänzt durch Einzel- und Elterngespräche, werden betroffene Kinder dabei unterstützt, sich in ihrer schwierigen Lebenssituation besser zurechtzufinden. „Ziel ist es, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Kinder zu stärken, so dass sie individuelle Bewältigungsstrategien entwickeln und diesen vertrauen“, sagt Fleck.
Caritas-Bereichsleiterin Anette Bacher freut sich ebenfalls, dass der Caritasverband das Angebot über die von „Aktion Mensch“ geförderte und in diesem November auslaufende dreijährige Projektphase hinaus anbieten kann: „Eine Weiterführung durch die Caritas als Regelangebot ist gesetzt. Aber da die Kinder nicht alle selbstständig in die Innenstadt kommen können, benötigen wir einen Fahrdienst, der sie abholen und sicher heimbringen kann. Das ist nicht billig, aber wichtig. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass Hyundai Motor Deutschland sich bereit erklärt hat, das Projekt mit einer großzügigen Spende zu unterstüt-zen, so dass es weitergehen kann“, sagt sie. Unter dem Motto „Gemeinsam mehr bewegen“ kooperieren Hyundai Motor Deutschland und die Caritas in Deutschland bereits seit 2004. Dabei fördert der Automobilhersteller Initiativen, die sich für ein verantwortungsvolles Miteinander, für gesellschaftliche Teilhabe und für Chancengleichheit einsetzen.
Das Ende der Projektphase im November nahm das „Schatzinsel“-Team zum Anlass, Bilanz zu ziehen und zu einem Fachtag einzuladen. Zu Vorträgen und Austausch rund um das Thema »Kinder psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern wirksam unterstützen: Kooperation ist eine wichtige Voraussetzung« kamen etwa 50 Teilnehmer aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen sowie Bildungs- und Betreuungseinrichtungen ins Caritaszentrum Offenbach. Bernd Bleines, Direktor im Caritasverband Offenbach, benannte in seiner Ansprache drei wesentliche Erfolge des „Schatzinsel“-Projekts: Erstens sei es gelungen, die Öffentlichkeit für die Lebenssituation betroffener Kinder zu sensibilisieren. Zweitens habe es die Vernetzung der Offenbacher Akteure befördert, denen er seinen ausdrücklichen Dank für die Kooperationsbereitschaft aussprach. Und drittens – der wichtigste Punkt – konnten im Rahmen des Projekts bisher rund 20 Offenbacher Kinder und Jugendliche begleitet und wirksam unterstützt werden.
Auch Schneider und Fleck, die auf dem Fachtag über ihre Lernprozesse, Erkenntnisse, Erfolge und Erfahrungen im Projektverlauf berichteten, werteten dies als wichtigsten Erfolg. „Es ist Präventionsarbeit für die kindliche Entwicklung, was wir hier machen“, betonte Schneider. Dass Kinder, deren Eltern an psychischen Störungen oder Suchterkrankungen leiden, einem bis zu achtfach erhöhten Risiko ausgesetzt sind, im Laufe ihres Lebens selbst seelisch zu erkranken, untermauerte Gastreferent Dr. Albert Lenz, Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Paderborn, mit Zahlen: 41% bis 77% der Kinder entwickeln laut Studien eine psychische Störung. Dabei machte Lenz auch deutlich: Durch den Aufbau von Schutzfaktoren und Reduzierung von Belastungsfaktoren lässt sich dieses Risiko signifikant verringern. Dazu Schneider: „Solche Schutzfaktoren können bei betroffenen Kindern und Jugendlichen unter anderem ein positives Selbstwertgefühl, gleichaltrige Freunde oder schulischer Erfolg sein.“ Auch altersgerechtes Wissen um die Erkrankung des Elternteils sei ein wichtiger Faktor. Dadurch könnten Kinder das in ihren Augen seltsame Verhalten der Eltern besser verstehen und einordnen – statt die Schuld bei sich zu suchen. Das „Schatzinsel“-Projektteam setze deshalb auf ein Konzept, das neben einem spielpädagogischen Ansatz auch psychoedukative Elemente beinhalte. „Wir erklären den Kindern zum Beispiel den Unterschied zwischen körperlicher und seelischer Krankheit“, erläuterte Schneider. Seelische Erkrankungen seien immer noch ein Tabuthema in der Gesellschaft. „In der Schule kann man sagen »Meinem Papa geht es schlecht – er liegt mit Grippe im Bett«. Aber wer sagt schon »Meinem Papa geht es schlecht – er hört Stimmen«, so Schneider. Die Sozialpädagogin hat die Erfahrung gemacht: „Es entlastet die Kinder, wenn sie im geschützten Rahmen zur Krankheit Fragen stellen und darüber sprechen können. Und sie merken in der Gruppe, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine dastehen. Es gibt noch andere Kinder, die sich ähnlichen familiären Herausforderungen stellen. Das macht ihnen Mut.“
Nicht nur die Kinder hätten einen Lernprozess durchlaufen, sondern auch sie selbst, sagten beide Projektleiterinnen. Zu ihren zentralen Erkenntnissen gehöre, dass die fachübergreifende Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen Institutionen ein solches Projekt erst möglich machten. Betroffene Familien zu erreichen und für eine Teilnahme am Projekt zu gewinnen, erforderte seitens der Projektmitarbeiterinnen „viel Geduld und noch mehr vertrauensbildende Gespräche“. Letztendlich kamen Kontaktanbahnungen zum ganz überwiegenden Teil über Kooperationspartner zustande – zum Beispiel über psychiatrisch-psychotherapeutische Ambulanzen oder Suchthilfe-Stellen.
„Ohne ein interdisziplinäres System an Unterstützung geht es nicht. Die komplexen Prob-lemlagen der betroffenen Familien erfordern in der Regel kombinierte Hilfen“, bestätigte auch Lenz. In seinem Vortrag stellte er den zirkulären Zusammenhang zwischen elterlicher Erkrankung und kindlicher seelischer Belastungen dar: Wenn Kinder auf die familiäre Situation mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren, so erzeuge dies wiederum erhöhten Stress bei den erkrankten Eltern. Das wirke sich dann wieder auf das Verhalten der Kinder aus. „Die Stressbelastungen in den Familien addieren sich nicht nur auf, sondern verstärken sich wechselseitig“, erklärte Lenz. Notwendig seien deshalb häufig mehrere, aufeinander abgestimmte Hilfen und Leistungen, insbesondere aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen, forderte er. Und weiter: „Das Problem in unserem Versorgungssystem ist nicht, dass die Hilfen nicht vorhanden wären. Aber es passiert zu viel nebeneinander, statt koordiniert. Es gilt, die Übergänge und Abstimmung zwischen dem Gesundheitswesen und der Kinder- und Jugendhilfe besser zu gestalten.“
(*Name von der Redaktion geändert)
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